Dr. Bettina Baumgärtel (D)
„Der, der die Quelltiefe gesehen hat…“ 2005

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Rede zu Eröffnung der Ausstellung BKK-Essanelle, Düsseldorf, 2005
Text von Dr. Bettina Baumgärtel, Leiterin der Gemäldegalerie, Museum Kunstpalast, Düsseldorf


Karl-Heinz Jeiter – „Der, der die Quelltiefe gesehen hat...“

In der Kunstgeschichte haben wir es sehr selten mit Künstlern zu tun, die sich wie Karl-Heinz Jeiter so ausschließlich mit zeichnerischen Mitteln ausdrücken. Zwar hatte die Zeichnung als künstlerische Äußerung seit jeher eine vorrangige Bedeutung, sei es dass sie dem Architekten oder Handwerker als planerisches Mittel zur Seite stand, sei es dass die Zeichnung dem Bildhauer, Maler und Graphiker eine Fülle von Gestaltungsmöglichkeiten an die Hand gab. In den meisten Fällen aber war sie mehr Mittel zu Zweck als Selbstzweck.
Ab dem 19. Jahrhundert auf dem Weg zu einer gegenstandslosen Kunst beginnt etwas, was für das Werk Karl-Heinz Jeiters entscheidend ist: Es ist die Freisetzung der Zeichnung als autonomes Wesen. Nun lösen sich Zeichner deutlich von der Wiedergabe der Wirklichkeit und machen zunehmend die Ausdrucksmöglichkeiten ihrer Arbeitsgeräte selbst zum Gegenstand einer zeichnerischen Äußerung.
Schließlich im Laufe des 20. Jahrhunderts gab die autonome Handzeichnung dem Künstler in ihrer Unmittelbarkeit und in der Vielfalt ihres technischen Zugriffs die Möglichkeit, sich von jeglicher Gegenständlichkeit befreit auszudrücken.

Karl-Heinz Jeiter zeichnet auf glattem, festem Durex 250g/m5, was ihm eine schnelle, flüssigere Bewegung ermöglicht. Er zeichnet ausschließlich mit Graphit- und Bundstiften von Faber Castell. Die Graphitstifte verwendet er in den Härtegeraden von HB bis 9B. Und obwohl er die volle Palette von über 120 verschiedenen Farbstiften fein säuberlich aufgereiht vor sich liegen hat, greift er immer wieder zu einer kleinen Auswahl derselben Farben. Er bevorzugt graue, blaue, braune bis rote und schwarze Töne. Grün kommt selten vor, obwohl Grün zu seiner Lieblingsfarbe zählt.
Grün ist für Künstler von jeher ein schwieriger Farbton, für Karl-Heinz Jeiter um so mehr, da Grün die Assoziation an Naturhaftes und Landschaftliches freisetzt. Zu seinen zeichnerischen Methoden kommen das Schmirgeln, das Ausradieren und das Verwischen mit hinzu.

Lange bevor der Künstler ins große Format geht, beginnt er die Arbeit im Kopf, zugleich entstehen viele, manchmal bis zu 200 miniaturformatige Vorzeichnungen.
Diese handtellergroßen Aktionsflächen werden in einem Skizzenbuch notiert, ideal, um es auch auf Reisen immer zur hand zu haben. Man wundert sich, wieviel tagtäglich entsteht. Hintergrund ist ein Schwur, den Karl-Heinz Jeiter einst getan hat, in Anlehnung an die von Plinius überlieferte Anekdote über den antiken Künstler Apelles: `nulla dies sine lineaA: Kein Tag solle vergehen, ohne eine gezeichnete Linie. Dieses Motto wird im übrigen den Titel seiner nächsten großen Einzelausstellung im Suermondt-Ludwig-Museum in Aachen geben.


"Nulla dies sine linea" mag eine Art Überlebensstrategie eines vielbeschäftigten Familienvaters sein, vor allem aber ist es der Drang des Zeichners, sich auszudrücken, das Bedürfnis, die Hand geschmeidig zu halten, denn dies garantiert ein flüssiges Lineament.
In diesem unendlichen Fluss der Notate entstehen große Serien, aus denen Jeiter bis zu 32 Teile herauslöst und als wandfüllende Blöcke präsentiert, wie hier in der vierteiligen Serie "Gilgamesh" aus dem Jahr 2003. Die Reihenfolge der Entstehung spielt dabei keine Rolle. Wer aber glauben möchte, die Blätter ließen sich à la Baselitz beliebig drehen oder gar auf den Kopf stellen, täuscht sich. Zeichnungen haben immer etwas mit Schreib- und Leserichtungen, hier in Europa mit der Links-Rechts-Bewegung zu tuen.

In einem scheinbaren Widerspruch zu Abstraktion der Werke stehen die konkreten Titel. Sie haben meist mit dem Ort der Entstehung zu tun, sind subjektive Gedankenstützen und bilden bisweilen eine klangliche und bewusst rätselhafte Korrespondenz. Zum Titel "Gilgamesh" kam es, weil die hier ausgestellte Serie im Vorlesefluß des berühmten Gilgamesh Epos gezeichnet wurde. Die ersten Zeilen dieser großartigen Dichtung, die auch nach fast viertausend Jahren nichts von ihrem Zauber verloren hat, lautet "Den, der die Quelltiefe gesehen hat...".
Mir scheit doch, als hätte Jeiter etwas von dieser Quelltiefe in diese Serie einfließen lassen.

Einige Zeichnungen sind auf Holz kaschiert, was ihnen mehr Körper gibt und ihre Autonomie unterstreicht. Dies heißt aber nicht, dass man sie - wie bisweilen geschehen - als Gemälde oder "malerische" Zeichnungen missverstehen darf. Um es tautologisch im Sprachbild des weißen Schimmels zu sagen: Graphischer als bei Jeiter können Zeichnungen kaum sein. Denn hier gelten noch die traditionellen Gegensätze vom Malerischem und Linearem. Die Formen werden nicht aus einer Farbmasse mit einem Pinsel, Spachtel oder Schwamm gebildet, sondern allein aus einer fest umrissenen Linie mit einem fein angespitztem Stift. Die Linie also ist das Grundelement, ist der Urlaut in der Polyphonie von Jeiters Arbeiten.

Angesichts einer Entwicklung in der modernen Kunst, wo die Zeichnung sich längst nicht mehr auf Stift und Papier beschränkt, sondern ein breigefächertes Experimentierfeld geworden ist, collagiert, durchbohrt oder genäht, mit Körpersäften oder Computermaus erarbeitet, wo Zeichnungen in den Raum greifen, sich mit Installationen verbünden, da hebt sich Jeiters zeichnerische Position in seiner strikten Konzentration auf die uralten graphischen Mittel geradezu als etwas Besonderes ab.

Obwohl Jeiters Zeichnungen freie Abstraktionen ohne die Spur einer Erinnerung an Dingliches sind, läßt sich freilich gegenstandsbezogenes Sehen kaum vermeiden. Die Ungegenständlichkeit seiner Arbeiten aber macht gerade ihre besondere Stärke aus. Er entläßt den Betrachter in eine Freiheit, die bis heute offenbar schwer verdaulich ist.
Nach mehr als einem Jahrhundert der Geschichte abstrakter Kunst von Melewitchs "Schwarzem Quadrat" bis zu informellen und konzeptuellen Positionen ist es dennoch an der Zeit, diese verschiedenen abstrakten Sprachen nicht in einen Topf zu werfen. Wenn wir genauer hinsehen, hat Jeiters zeichnerisches Oeuvre weder etwas mit dem Informel der 1960er Jahre, noch mit dem gestischen Werk von Karl Otto Götz oder Emil Schumacher zu tuen, da er weder deren Konzepten noch deren künstlerischer Methode folgt, geschweige denn jener Spontaneität im Gestischen freien Lauf läßt. Im Gegenteil, nichts überläßt Jeiter dem Zufall, weder das Absichtslose noch der unbewußte Reflex regieren seine Bildwerdung. Die Striche sind präzise geführt, die Schraffurenbündel drücken eine gespannte Dynamik aus.
Zwar vermitteln manche Partien den Eindruck einer fliegenden Eile und damit die Leichtigkeit des Zufalls, jedoch sind all diese Elemente die Summe bewußter Bewegungsfolgen und das Ergebnis einer im Vorfeld ausgearbeiteten Komposition.
Würde die Willkür regieren, hätten wir es hier nicht mit einem immer wiederkehrenden Prinzip zu tuen: nämlich die bildfüllende Komposition in kontrastreichen Setzungen von Hell und Dunkel, von geschlossenen und sich öffnenden Formen. Helle Strukturen treten uns entgegen, dunkle weichen zurück und öffnen den Tiefenraum des Bildes.

Die meisten Betrachter werden dennoch in Jeiters Arbeiten an Höhlen oder Felsformationen denken, das ist ein ganz üblicher Wahrnehmungsprozeß. Jeiter aber will keinesfalls konkreten Räumen Gestalt geben. Trotz der Raumwertigkeit seiner Arbeiten scheit es mir wichtig, die richtige Sprache für seine Kunst zu finden.
Jene konkreten Gegenstandsbezeichnungen und bildhaften Begriffe sollten wir vermeiden, die Kunsthistoriker gemeinhin immer gerne verwenden, wenn sie versuchen, abstrakte Kunst verständlich zu machen. Denn in dem Moment, wenn ich von Höhlen oder Felsformationen spreche, werden Sie als Betrachtende um so mehr verleitet, den schwebenden Abstraktionswert, die Leichtigkeit des Unkonkreten, wieder an den Gegenstand zu fesseln und bleischwer zu verdinglichen.
Es wäre schön, wenn der Betrachter das Wagnis eingehen würde, den umgekehrten Weg zu gehen, indem er dem Freiflug der Linie ohne gegenständliche Fesseln folgt.
Erst im Nachvollzug, in der genauen Lektüre der Zeichenbewegung erfährt der Betrachter die Entstehung des Blattes. Erst wenn er sozusagen zuhört und nicht interpretiert, erzählt eine Zeichnung ihre Geschichte. Denn das besondere im Werk von Jeiter ist die Geschichte des Zeichnens selbst: Das An- und Abschwellen einer Linie. Die Bewegung und der Druck der zeichnenden Hand verewigt sich mal stärker, mal feiner, mal dichter, mal poröser. Strich um Strich, Form entsteht neben Form. Langsam sieht der Betrachter das Blatt sich füllen, nimmt die Entwicklung vom leeren Stück Papier zu einer in sich geschlossenen Komposition wahr. In dieser Art der Lektüre wird das Zeichnen um seiner selbst willen wahrgenommen, als ein Prozeß, der Anfang und Ende, Steigerungen und Höhepunkte birgt.

Somit macht Jeiter die künstlerischen Voraussetzungen des Zeichnen selbst zu Thema. Seine Linie möchte um ihrer selbst willen als Körper in ihrer eigenen Materialität wahrgenommen werden.
"Die Linien", so sagt der Künstler selbst, "bilden nichts anderes ab als sich selbst, bilden in ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit einen ästhetischen Kosmos, den ich Zeichnung nenne".

Im Blick auf die Werkentwicklung des Künstlers in den letzten zehn Jahren fällt auf, dass sich Jeiter vorsichtig vorangetastet hat. Die radikalen Brüche sind nicht seine Sache. Er bleibt sich seit vielen Jahren treu, ohne im Altbewährten zu verharren, arbeitet in einer unprätenziösen und ehrlichen Sprache. Vielleicht macht gerade dies die Stärke im Werk von Karl-Heinz Jeiter aus.

 

Bettina Baumgärtel


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