Dr. Dagmar Preising (D)
„Die Zeichnung und ihre Antagonismen“ 2005

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Katalog „Karl-Heinz Jeiter - Kein Tag ohne Linie - Zeichnungen von 2001 bis heute“
Aachen, 2005 - Text von Dr. Dagmar Preising


„Kein Tag ohne Linie“
Die Zeichnung und ihre Antagonismen

Karl-Heinz Jeiter vertritt eine eigenwillige Position in dem Diskurs "Zeichnung heute". Sein künstlerisches Schaffen, das der abstrakten Kunst gilt, ist ausschließlich dem Medium der Zeichnung gewidmet. Graphit und Farbstifte sind seine einzigen Instrumente, die er zur Gestaltung einsetzt, Papier der ausschließliche Träger seiner Bildideen. Die Vielseitigkeit seines künstlerischen Oeuvres lässt diese Konsequenz in technischer Hinsicht jedoch zunächst nicht vermuten. Von kleinformatigen Skizzen bis zu metergroßen an der Wand präsentierten Arbeiten reicht sein Schaffen, vom Skizzenbuch zum gerahmten oder auf Holz aufgezogenen Bild. Karl-Heinz Jeiter experimentiert mit den Möglichkeiten des Zeichnens, er diskutiert in der Zeichnung das Medium Zeichnung. Sein Werk kreist um die zentrale Frage, welche Möglichkeiten in der Zeichnung liegen und wo seine Grenzen auftreten.

Das konstituierende Element jeder Zeichnung ist die Linie. Ihre Gestaltung gilt als der unmittelbarste Ausdruck der künstlerischen Phantasie. Seit der Renaissance wurde der Zeichnung, dem Entwurf eine besondere Wertschätzung entgegen gebracht, materialisierte sich in ihm doch das schöpferische Potential, das anschließend in eine andere Technik umgesetzt und als künstlerisches Endprodukt ausgeführt wurde. Die klassische Handzeichnung war somit in erster Linie Entwurf für ein Gemälde, eine Wandmalerei oder eine Skulptur. Die Loslösung aus diesem Kontext, die zu ihrer Autonomie als Kunstwerk führte und die Zeichnung als eigenständige Ausdrucksmöglichkeit neben die anderen Bildtechniken setzte, ist ein Prozess, der bereits im 18. Jahrhundert deutlich an Konturen gewann und mit dem avantgardistischen Traditionsbruch zu Beginn des 20. Jahrhunderts endgültig vollzogen war.
In Karl-Heinz Jeiters Werk finden sich beide funktionalen Möglichkeiten der Zeichnung, die Ideenskizze als Vorzeichnung sowie die Zeichnung als autonomes Endprodukt. Beide Aspekte der Zeichnung stehen bei Jeiter folgerichtig nicht unabhängig nebeneinander, sondern sind aufeinander bezogen. Seine Skizzen, die in zahlreichen Skizzenbüchern vorliegen, bilden den Ausgangspunkt für die Entstehung seiner großformatigen Arbeiten.

Karl-Heinz Jeiter zeichnet jeden Tag. An seiner großen Staffelei oder in seine Skizzenbücher zeichnet er in allen Lebenssituationen. So gewinnt das alte Motto - nulla dies sine linea -, das auf den von ihm sehr geschätzten Künstler des 19. Jahrhunderts Adolf von Menzel zurückgeht, in seinem Werk eine ungeahnte Aktualität. Diese Skizzen, meist in Blöcken unterschiedlicher Anzahl auf die Seiten seiner Skizzenbücher gesetzt, fixieren die Kompositionsideen des Künstlers. Die bevorzugt geometrische Anordnung der Skizzen zeigt, dass diese trotz ihrer jeweiligen klaren Umgrenzung zumeist nicht als isolierte Einzelwerke, sondern als En-bloc-Präsentationen zu sehen sind, bei denen die Einzelkompositionen in einem übergeordneten formalen Zusammenhang eingebettet sind. Diese Vorliebe des Zeichners gilt auch für zahlreiche für die Wand gefertigte Arbeiten.


In den kleinen Skizzen tritt das genuin zeichnerische Element im Schaffen Karl-Heinz Jeiters am offenkundigsten und deutlichsten zutage. Hier ist die zeichnerische Qualität unübertroffen. Sicher wird der Graphitstift über das Papier geführt. Farbstifte sind nur spärlich eingesetzt. Vibrierende Linien und feste Schraffuren strukturieren das abgegrenzte Geviert und gehen an den Rändern teils über dieses hinaus. Kleine abstrakte Bildkompositionen sind entstanden, die das Weiß des Papiers gegen lichte Schraffuren und dunkle Verdichtungen setzen. Ihre gestische Struktur und die räumliche Wirkung der Hell-Dunkel-Schattierungen geben ihnen den Charakter von Landschaft, ohne jedoch Landschaft zu meinen.

Aus der Vielzahl der Skizzen werden einige zu gezeichneten Arbeiten für die Wand monumentalisiert. Karl-Heinz Jeiter beschreitet hier ganz unterschiedliche Wege. Auf der einen Seite favorisiert er die Papiermaterialität, lässt diese klar hervortreten, indem er die Ränder des Papiers betont und die Bildkomposition nicht bis zum Blattrand führt. Verstärkt werden kann diese materiale Dimension des Bildträgers, die dem Charakter der klassischen Zeichnung entspricht, durch Verzicht auf eine Rahmung. Der Werkcharakter der Arbeit, nämlich Zeichnung auf Papier zu sein, tritt in einer rahmenlosen Montage an der Wand unverstellt und unmittelbar in Erscheinung.
Auf der anderen Seite nimmt Jeiter die Materialeigenheiten des Papiers weitgehend zurück bis zu ihrer optischen Negation. Die Komposition ist in diesen Fällen bis zur Blattkante geführt, eine Rahmung verdeckt zudem den Papierrand. Die Farbigkeit der Komposition scheint mit dem Wegfallen des weißen Papierrandes zuzunehmen. Die wenigen Weißstellen des Papiers werden inmitten ihres kontrastreichen Umfeldes nicht mehr unmittelbar als solche wahrnehmbar, sondern erscheinen eher als aufgesetztes Weiß. Die Arbeiten erhalten den Charakter von Gouachen. Nur bei näherem, fast die Gesamtkomposition aus dem Auge verlierenden Herantreten wird die Zeichnungsstruktur, die feine Linienführung der Stifte und das Weiß des Papiers deutlich. In größerer, dem Format adäquater Entfernung schließen sich die Linien zu in ihrer Farbigkeit changierenden Flächen zusammen, das Papierweiß wird zu weißer Farbe.
Die optische Verleugnung der Papiermaterialität in Kombination mit dem scheinbaren Flächencharakter bringen die großformatigen Arbeiten in eine Zwitterstellung zwischen Malerei und Zeichnung. Scheint es sich aus größerer Entfernung um Aquarellmalerei oder Gouache zu handeln, wird erst aus einer Nahsicht, der jedoch das Format entgegen wirkt, die Struktur der Zeichnung erkennbar. Widersprüchlichkeit erweist sich somit als ein grundlegendes Charakteristikum der Arbeiten von Karl-Heinz-Jeiter.

Eine andere Variante in der Präsentation der großformatigen Arbeiten Karl-Heinz Jeiters ist das Aufziehen der mit Zeichnungen versehenen Blätter auf Holz. Die Zeichnung wird wiederum bis zum Blattrand geführt, die Papiermaterialität zusätzlich durch die Holztafeln negiert. Jeiter bevorzugt die Holzmontage bei den Block-Präsentationen, hierbei werden mehrere kleinere Kompositionen zu unterschiedlich großen Feldern zusammengesetzt, so dass die Gesamtkomposition durch die
Anordnung der Einzeltafeln bestimmt wird. Dieser Umgang mit der Zeichnung widerspricht ihren eigenen medialen Spezifica. Die Zeichnungen erhalten nunmehr eindeutig den Charakter von Gemälden. Zwar wird auch in diesem Fall in der Nahsicht noch die Struktur der Zeichnung, die Linien der Graphit- und Farbstifte erkennbar, doch ist diese letztlich nicht wirklich intendiert. Die bereits hervorgehobene und für Jeiters Schaffen charakteristische Ambivalenz von Zeichnung und Malerei wird eher zugunsten der Malerei entschieden; die Grenzen der Zeichnung sind hier überschritten.

Die Antagonismen, die die für die Wand entstandenen Zeichnungen Jeiters kennzeichnen, resultieren nicht alleine aus der Frage des Formates oder der Präsentation, sondern ebenso aus der bildlichen Struktur. Karl-Heinz Jeiters Arbeiten sind Fläche füllend. In mehreren Schichten werden die Liniengefüge und dichten Schraffuren übereinander gelegt und teils mit dem Radiergummi oder dem Schmirgelpapier wieder entfernt. Es entstehen changierende Farbformationen, die bisweilen Landschaften assoziieren lassen. Die Feinheit der Linien und Strichlagen intendiert bisweilen geradezu eine Flächentechnik, so wie sie in der Aquarell-, Tempera- und Ölmalerei gegeben ist. Auch das tiefe Schwarz, das mit sehr weichen Graphitstiften und zum Teil durch den Einsatz von Graphitpulver entsteht und in vielen seiner Arbeiten dominiert, weist in seinen verdichteten Partien durchaus einen malerischen Charakter auf. Das Übereinanderlegen verschiedener Farbtöne führt zu einer nuancenreichen Farbpalette, wie sie der Malerei eigen, der Zeichnung jedoch eher wesensfremd ist. Die filigrane Struktur einzelner Schwarzlinien dagegen, die über die Farbgrundierung gelegt wird, um gezielte Pointierungen in den Kompositionen geben, ist ein ureigenes zeichnerisches Element. Somit bleibt auch in der Frage der Bildstruktur der Antagonismus zwischen Malerei und Zeichnung bestehen.

Irritierend ambivalent ist ebenso ein letzter Aspekt, der sich in den Arbeiten Karl-Heinz Jeiters zeigt: das Verhältnis von Sujet – der abstrakten Komposition – und der tiefenräumlichen Bildkonzeption. Die mittels Linien aufgebauten Farbfelder weisen eine erstaunliche räumliche Wirkung auf, die den Betrachter in den Sog nimmt und zu immer neuer Anschauung einlädt. Dieses Spiel von Linien, Farbschattierungen und Räumlichkeit impliziert eine durchaus poetische Wirkung. Der Poesie diametral entgegen gesetzt sind hingegen die Bildtitel, sofern es sie gibt. Gilgamesh, Ettlingen, Terrassa – 345 weisen keinerlei Bezug zur innerbildlichen Struktur auf, sondern kennzeichnen nüchtern biographisch lediglich die Orte, und Situationen, an und in denen sich der Künstler befand, als die Zeichnungen oder die zugrunde liegenden Kompositionsskizzen entstanden.

Karl-Heinz Jeiters Zeichnungen leben und wirken durch ihre Widersprüchlichkeit, ihre Antagonismen. Jeiter knüpft in seinen Kompositionsskizzen noch an die klassische Zeichnung an, lotet aber in seinen großformatigen Zeichnungen, die als Arbeiten für die Wand ausgeführt sind, neue Möglichkeiten aus, die bis an die Grenzen der Zeichnung führen, ohne jedoch das Prinzip der gezeichneten Linie zu verlassen.

Dagmar Preising

 

 

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