Martina Schuller (D)
"Mikrokostmos, Makrokosmos, zu Besuch bei Karl-Heinz Jeiter" 1989

zurück zur Textübersicht >>

Besuch im Atelier in der Zeitschrift "Klenkes", 1989


Mikokosmos, Makrokosmos, zu Besuch bei Karl-Heinz Jeite

Die Hand will er mir zur Begrüßung nicht drücken, da sie schwarz ist von der Arbeit im Atelier. Dafür zeigt er mir umso bereitwilliger, jedoch sparsam in Wort und Beschreibung, seine Werke.

Das, was der Zeichner Karl-Heinz Jeiter, 35 Jahre alt, gebürtiger Aachener, als Atelier-platz benötigt, ist – schlicht gesagt – Platz für die große Staffelei und den Distanzraum von dort zu seiner Person, der einen Gesamtblick auf die behandelte Zeichnung ermöglicht.

Mein Blick fällt auf eine hüfthohe Kommode neben der Staffelei – darauf die Zeichenutensilien, sauber geordnet wie auf dem Instrumententisch im OP. Ich entdecke eine riesige Palette von Blei- und Buntstiften und Radiergummis, auch schon schwarz vom Gebrauch, Läppchen und Lineal. Sein Zeichengrund ist Karton von der Rolle, er bevorzugt große Formate um 150 x 200 cm.

Bekannt machten ihn wohl zunächst seine "Müllhalden" und "Ansammlungen", unendlich über das seiner Meinung nach immer noch zu kleine Bildformat hinaus fortsetzbare Sammelsurien von gezeichneten Fundstücken, Gerümpel, Schrottteilen, später auch erfundenen Formen von Kegeln, Pyramiden, Gekringeltem. Sie markieren Ausgangspunkt für sein jetziges Schaffen, sind Erfahrungsfelder für neue Sichtweisen und Möglichkeiten der Entfaltung zeichnerischer Mittel.

Wer ihn dennoch heute als den "Zeichner der Müllberge" betitelt, hinkt meilenweit hinter seiner Entwicklung her. Seit 1987/88 ist Gegenständliches aus seinem Werk verschwunden, vorherrschend ist Struktur, die sich aus einem Arbeitsprozeß herauskristallisiert, der sich als Erkundungsgang durch einen Kosmos von Phantasie und Beschränkung auf einfachstes Zeichenmaterial offenbart. Nach einer einfachen Planskizze über die Struktur in der Hell- Dunkel-Gewichtung, erklärt Jeiter, wird die Kartonfläche in Bleistiftgravuren mit Beifügung von Farbflächen grundiert, meist in der Skala der Gelb- bis Rosa-Rot- Töne, selten mit blauen und grünen Akzenten. Schon durch die anschließende Bearbeitung mit Radiergummi, weichem Stoff, die Verwischungen, Gekratztes, Getupftes und Verwehtes erkennen lässt, entsteht zusammen mit erneutem Einsatz von Bunt- und Bleistift, von Lineal gezogenen Strichlagen, Schattierungen, Schraffuren, Kurven und unverwechselbaren hartkantigen Linienfügen ein Kraftfeld aus vielgeschichteten Strukturen. Unterschiedliche Stadien von Verdichtung – Offenheit, von hellen, zarten Geweben – dunklen Ballungen, Schwingungen, Verzahnungen, zielgerichteten Linienbündeln und –knäueln in Lagen von Grau- und Schwarzabstufungen, von Licht, Schatten, Linien und Flächen, erzeugen eine suggestive, unentrinnbare, räumliche Sogwirkung: Er entwickelt Dynamik. So scheint ein Großformat von 1988 in einer inneren Rahmung, das an belichtete und verschattete Felswände denken lässt, den Blick in eine dunkle Höhle zu ziehen, die weit hinten, im Unsichtbaren, Leben und Struktur ahnen und assoziiere lässt. Mein erster Gedanke war der eines Heeres mit senkrecht gehaltenen, blitzenden, kalten Speeren und Lanzen. Vielleicht hat der Künstler hier eine Welt geschaffen, wie im 16. Jahrhundert Albrecht Altdorfer in seinem Bild der Alexanderschlacht, auf dem sich ein Weltpanorama kosmischen Ausmaßes eröffnet. Möglicherweise liegen in und hinter der "Höhle" von Jeiter weitere Räume, die erforscht werden können? Das Bild ist, wie bei Altdorfer, ein Ausschnitt, der aber das "Ganze" meint, eine potentielle Unendlichkeit.

Genau dieses Gedankenexperiment finde ich von Jeiter selbst thematisiert in Bildausschnitten, die er isoliert. Von dort aus dringt er in weiteren Schritten der Vergrößerung in Dimensionen vor, die nicht wahrnehmbar werden – hinter einer durch dicke Strichlagen von Bleistift mattschwarz schimmernde Oberfläche verbergen sich immer neue Strukturen, immer neue, nie gesehene Räume. Obwohl der Ausgangspunkt geplant war, führen Auseinandersetzungen mit dem Medium der Zeichnung selbst und zeichnerische Phantasie in vorher unbestimmbare Bereiche.

Ebenso unbestimmt und zurückhaltend ist die Benennung seiner Werke – "Ansammlung", "Ausschnitt". Jeiter macht keine Vorgaben, die nur irreführend wären, so wie die Beschreibung seiner Werke nur einschränkend ausfällt, da Worte die Vielfalt auf dem Papier, geschweige die beim Betrachter ausgelösten Ideen darüber, nicht fassen. Die Zeichnungen Karl-Heinz Jeiters fordern vom Betrachter eine direkte Auseinandersetzung mit assoziationsreichen Strukturen vor Ort. Diese Erfahrungen sind durch keine sekundäre Vermittlung zu ersetzen.

In diesem Sinne berührt Jeiter die "anti-formalistische" Kunst des Informel der 50/60er Jahre, in der die Malerei als Abenteuer einen Freiheitsraum schuf, in dem die Abkehr vom Gegenständlichen zunächst wie eine Flucht vor der "Wirklichkeit" aussieht, sich später jedoch als umso intensivere Erfahrung der Wirklichkeit herausstellt.

Martina Schuller

zurück zur Textübersicht >>

 

 

 

 

 

copyright by bestpreiswerbung Aachen