Dr. Josef Gülpers (D)
Kunsthistoriker
2017

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Auf den ersten Blick erscheinen die Werke Karl Heinz Jeiters wie Gemälde, erst dem die Gesamtkomposition aus dem Auge verlierenden Nähertretenden erschließt sich, dass er auf eine Zeichnung blickt. Unzählige farbige Linien, mit Buntstiften unterschiedlicher Härte dicht an dicht und oft sich überdeckend das Weiß des schweren, glatten Papiers füllend, ergeben flächige Gebilde – Linienkörper, wie der Künstler sie selbst bezeichnet - die man sonst lediglich mit dem Pinsel erzielt. Flächen und Gebilde, die Räume öffnen und eine ungewöhnliche Tiefenwirkung entfalten. Karl Heinz Jeiter experimentiert mit der Zeichnung, lotet ihre Möglichkeiten aus und hebt die Grenze zwischen linienbetonter Zeichnung und flächenbetonter Malerei auf.

Karl Heinz Jeiter ist ein fleißiger Künstler, dessen Wahlspruch, der auf den römischen Geschichtsschreiber und Naturwissenschaftler Plinius der Ältere zurückgeht, lautet: nulla dies sine linea – kein Tag ohne Linie.

Die einzelne Linie, die in ihrer Singularität kaum mehr wahrzunehmen ist, in eine Fläche eingeht, die zu kristallinen oder amorphen Gestalten wird; Linien, die sich von ihrer traditionellen Aufgabe, eine Kontur zu bilden, eine Fläche zu begrenzen, befreien; Linien, die keine abbildende, keine assoziative Wirkung zeitigen, sondern einen Selbstwert besitzen; Linien, denen man den dynamischen und kraftvollen Schwung, die immer wiederkehrende diagonale Strichführung des Rechtshänders ansieht und ungegenständliche Kompositionen aus Formen und Farbklängen bilden. Hell- und Dunkelkontraste sowie farbige Abschattierungen verstärken die Wirkung von Volumen sowie die eines schwebenden Zustandes. Andere Linien bleiben dagegen als Solitär stehen. Indem Karl Heinz Jeiter die meisten seiner Arbeiten auf eine Holztafel zieht, negiert er die Materialität des Papiers und bringt seine Zeichnung auch hier in die Nähe des Tafelbildes.

Ist das Blatt, das eine Größe von 2,50 Metern Höhe und eine Breite von 6,60 Metern erreichen kann, vollständig gefüllt, arbeitet der Künstler mit einem Radiergummi und Schmirgelpapier an einzelnen Partien weiter, sodass untere Schichten erneut freigelegt werden.

Ein feines Gespür des Künstlers für die Wahl der Farbe und der Form lässt den Anblick der charaktervollen Zeichnungen zu einem ästhetischen Erlebnis werden, sofern der Betrachter sich Zeit und Muße nimmt, tief in den Zeichenraum einzutauchen. Darüber hinaus kann in einem synergetischen Empfinden ein ausgewogenes Gleichgewicht, eine Harmonie entstehen, die jenseits einer künstlerischen Ästhetik liegt und die in der Lage sein kann, die Seele zu berühren.

Tritt man nahe an das Bild heran, entspinnt sich ein ungemeines Linienchaos. Mit einigem Abstand werden mancheeine Landschaft assoziieren, andere ein verworrenes Höhlensystem, Wolkenformationen, wieder andere einen farbenprächtigen Dschungel, Spiegelungen in einer Wasseroberfläche oder geborstene Gesteinsschichten. Wieder andere vermeinen ins Bild gesetzte Musik zu sehen, besonders diejenigen, die wissen, dass Karl Heinz Jeiter während des täglichen Zeichnens nahezu ununterbrochen die Musik Johann Sebastian Bachs hört.

Lässt man sich auf die Bilder ein, wird man hinweggetragen, und das, was der Betrachter in diesen Bildern zu sehen und zu fühlen imstande ist, hängt von dem Standort, der momentanen Stimmung und den Emotionen seiner Person ab. Erst im Auge des Betrachters wird die Zeichnung zu einem lebendigen Organismus. Der Künstler selbst sagt über seine Arbeit: "Die Linien bilden nichts anderes ab als sich selbst, bilden in ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten einen ästhetischen Kosmos, den ich Zeichnung nenne."

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