Prof. Dr. Wolfgang Becker (D)
„Höhlenforschung“
1999 - Über die Arbeit von Karl-Heinz Jeiter

zurück zur Textübersicht >>

Höhlenforschung
Über die Arbeit von Karl-Heinz Jeiter

Drei Gründe, ungläubig den Kopf zu schütteln: Alle Bilder, die Karl-Heinz Jeiter zeigt, sind Zeichnungen, die er geduldig mit Farb- und Bleistiften herstellt. Er liebt es, sie in die Nähe von Aquarellen, Gouachen oder gar Ölbildern zu rücken, Bewunderung zu erregen vor Verläufen, die wie spontane Pinselzüge oder ausgewässerte Farbzüge aussehen, vor Bildräumen, die wir in Zeichnungen zu betrachten nicht gewöhnt sind. Und er sucht nach starken beherrschenden Farben, Farbgradationen und -klängen, die die Bildwirkung bestimmen. Es gibt keine Möglichkeit, sich diese großen Blätter als Vorlagen zu Radierungen vorzustellen, in denen ihre Farbigkeit auf eine reiche Skala von Schwarztönen reduziert wäre (man denke an die "Carceri" von Piranesi, die, so wie ich weiß, niemand zu kolorieren gewagt hat).

Wir können den berühmten Spruch von Gerhard Richter "Ich will ein Foto malen" auf Karl-Heinz Jeiter ummünzen und sagen. Er will ein Gemälde zeichnen. So Stark sind diese Blätter bis zu ihren Rändern durchgeformt, so prall füllen die Bilder die Formate, dass die Vorstellung einer Zeichnung sich nicht einstellen mag. Wir stellen uns den Zeichner als einen Menschen vor, der am Beginn seiner Arbeit eine starke Angst emporsteigen fühlt, ein makelloses weißes Blatt Papier mit einem ersten Strich des harten Stiftes zu verletzen. Hat er diese Schwelle überschritten, so wird er die Freiheit genießen, das Farbpulver auf der feinkörnigen Fläche mit spitzen Instrumenten locker zu verreiben, der Motorik, die die Finger mit dem Gehirn berbindet, freien Lauf zu lassen. Es wird nicht sein erster Impuls sein, hier ein Bild fertig zu stellen, er wird eher in dem Bewusstsein arbeiten, einen Entwurf zu schaffen, den er in einem anderen Medium verarbeiten kann. Dieseas non finito begeistert den Sammler von Zeichnungen, in der schnell hingeworfenen Skizze erscheint ihm das Meisterwerk im Zustand seiner Geburt.

Es gibt auch bei Jeiter Blätter, die er als Skizzen bezeichnet, kleinformatige Entwürfe, die er in Gruppen von etwa sechs gleichmäßig auf die Seite eines Zeichenblocks verteilt. Sie irritieren. Denn ebenso wie sie schwarz-weiße Vorzeichnungen zu den Farbbildern sind, in denen er die Inszenierungen eines Dramas zwischen Licht und Dunkel ausprobiert, so könnten sie auch schwarz-weiße Wiedergaben von Bildern sein, deren Kompositionen er in einem Skizzenbuch aufbewahrt (sein `Libro della VeritàA nach dem von Claude Lorrain).

Wer ungläubig den Kopf geschüttelt hat vor Zeichnungen, die aussehen wie gemalte Bilder, und dann erstaunt war zu entdecken, dass sie seinen Vorstellungen von Zeichnungen nicht entsprechen, wird sich fragen: Wer ist Karl-Heinz Jeiter und wo arbeitet er? Und wieder wird er erstaunen, wenn er hört, dass Jeiter in einem Zentrum für internationale Gegenwartskunst beschäftigt ist und folglich ein hohes Maß von Informationen über das verarbeitet, was andere Künstler heute herstellen.
Man könnte sich ihn wie einen Schwamm vorstellen, der eine große Menge fruchtbarer Flüssigkeit aufnimmt, umformt und wiedergibt. Aber das Werk, das er aus-breitet, verrät nichts von dieser weltoffenen Bühne, an deren Rand er sitzt. Er pflegt dickköpfig eine melancholische Introversion - eine überaus kreative Obsession.

Wer dreimal ungläubig den Kopf geschüttelt hat, ist auf drei Elemente der Obsession gestoßen: die Täuschung, die Arbeit und die Nacht.

Die Täuschung entsteht nicht nur, weil die Zeichnungen wie gemalte Bilder aussehen, sondern weil sie Bewegungen zeigen, die keine mehr sind. Darum muss Karl-Heinz Jeiter die flüssige Farbe durch das Pulver des Pigmentes, den weichen Pinsel durch den harten Stift ersetzen: er würde anders nicht erreichen, dass Meereswellen zu Eisschollen erstarren und Unterwasserwelten sich in Tropfsteinhöhlen verwandeln. Wasser zu Eis, Lava zu Kristall: es finden Verhärtungen statt, Materialisierungen und Entmaterialisierungen, Prozesse, in denen Farben und Licht zwischen Flintsteinen entstehen, die gegeneinander geschlagen werden.

Ich habe in meiner Annäherung eine Richtung eingeschlagen, die nicht zu den CarceriA von Piranesi, zu unterirdischen labyrinthischen Verliesen führt, die Menschen entworfen und gebaut haben, sondern zu den Triebkräften der Erde. Und ich habe an die Bilder gedacht, die Fritz Winter 1944 unter diesem Titel gemalt hat. Es sind kleine Ölbilder auf Papier, und sie entstanden während eines Genesungsurlaubes nach einer schweren Verwundung im Feld; die Umstände und das Datum der Entstehung geben ihnen einen besonderen Wert in der deutschen Kunstgeschichte. In allergrößter, notvollster Introversion benutzt ein Künstler das Bildvokabular, das der Kubismus eingeführt hat, und senkt den Blick in kristallin durchleuchtete Höhlen, in denen Zeitlosigkeit sein verirrtes Ich sich zu halten sucht. Nach dem Krieg hat sich Winter an jenem europäischen Stil des Informel beteiligt, der von der école de Paris bestimmt wurde. Von den `Triebkräften der ErdeA hat er sich entfernt.

Weder Fritz Winter noch Karl-Heinz Jeiter malen oberirdische oder unterirdische Gebirgslandschaften. Nur ich bediene mich dieser Wortkomplexe, um den Bildern näher zu kommen und den Zeichner zu verstehen. Das Wort "Höhlenforschung", das ich im Titel verwende, legt nahe, nach anderen Künstlern zu schauen, die diesen Bereich gestreift haben. Unter ihnen ist der Zeitgenosse Ralf Winkler der be-kannteste, der sich mit dem Pseudonym A.R. Penck sogar den Namen eines Höhlenforschers der Vergangenheit angeeignet hat. Aber er - wie etliche Vorgänger - bezieht sich existentiell nicht auf jenen Erlebnisraum der Höhle, in dem die Triebkräfte der Erde spürbar werden, sondern auf die rituellen Darstellungen des Menschen in prähistorischen Höhlenmalereien. Nicht einmal die Metapher eines Menschen ist in Jeiters Arbeiten zu sehen.

Jeiters Bilder bilden nichts ab. Die obessionale Arbeit - mit ihrem speziellem horror vacui - zielt nicht auf die Definition von Gegenständen, die konturiert und als Volumen
gestaltet würden. Die Obsession steckt in einer Schraffur, die im Laufe der Arbeit selbst zu einer Gestalt wird. In welche Gestalten kann eine Schraffur münden, in welche Gestalten ein Pinselstrich? Hier verwandelt sich alles Ozeanische in Alpinisches, weiche Volumen erstarren zu schrundigen felsigen Formationen.

Das auf den weißen Papieren abgearbeitete Graphit macht die Biolder dunkel, wenn-gleich Jeiter sie nicht - wie man in den kleinen Skizzen sehen kann - auf einem dunklen Fond aufbaut. Die scharfen Licht-Schatten-Kanten, die er herausarbeitet, und die aufgehellten Volumen, die wie abgereiben erscheinen, sorgen für einen chiaroscuro-Effekt, ein Licht-und-Dunkel-Drama, in dem dunkle Volumen wie Materie und helle wie Lichteinfälle erscheinen. Diese immateriellen lichtgetränkten Schweife sind häufig überspielt von zarten dunklen Linien oder Linienbündeln, die eine vibrierende atmosphärische Bewegung suggerieren - und denn doch den Zeichner verraten, dessen Stift vervös nach Wegen sucht.

Jeiter hat einen Weg gefunden Bilder zu machen, der ihm ganz eigen ist und keinen Vergleich mit irgend einem Zeitgenossen sucht. Der Weg ist eine maniera, und ihr Produkt sind jene Nachtlanschaften eines Melancholikers, in denen er seinen Blick nach innen ebenso in Ansichten vom Inneren der Erde wie in solchen der schwarzen Tiefen des Kosmos spiegelt.

Wolfgang Becker

 

zurück zur Textübersicht >>